: Ein Held für unsere Zeit
Rückspiel in der Champions League: Heute Abend will Oliver Kahn ganz allein gegen Real Madrid, die beste Fußballmannschaft der Welt, siegen. Vier Anmerkungen zu einem Torwart, der längst zu einem Symbol geworden ist
„Wir Torhüter sind Einzelkämpfer.“ OLIVER KAHN
Der Existenzialist
Der Torhüter ist ein Beobachter. Wie der Schiedsrichter schaut er dem Spiel zu, an dem er meistens nicht direkt teilhat. Sein Job ist es, wie der Schiedsrichter, in der entscheidenden halben Sekunde das Richtige zu tun. Der Torwart kann, wie Kahn vor zwei Wochen gegen Real Madrid, ein Spiel ganz allein vergeigen. Das passiert oft, öfter als das Gegenteil. Der Torhüter ist eine Figur aus dem Wörterbuch des Existenzialismus: näher an Schuld und Einsamkeit als die anderen Spieler.
Torhüter haben in der Bundesliga das Individuelle, das Besondere ihrer Rolle früher manchmal benutzt, um sich außerhalb des Spiels zu stellen. Wer nicht rennen muss und viel zusieht, hat die Freiheit, komisch zu werden. Wolfgang Kleff applaudierte mal einem Stürmer, der den Ball unhaltbar in sein Netz jagte. Sepp Maier gab den Klassenclown. Petar Radenkovic macht Ausflüge ins Spielfeld. Viel davon war Show. Maier und Kleff waren ehrgeizig bis zum Umfallen. Aber es waren Zeichen, dass sie die Torwart-Rolle nicht tragisch, sondern komisch deuteten.
Kahn ist nicht komisch. Oder nur unfreiwillig: mit mahlenden Backen, vorgerecktem Kinn und dem unendlichen Ernst, mit dem er bei der Sache ist. Kahn hat nicht die Selbstdistanz, die man zur Komik braucht (auf dem Platz wohlgemerkt, in Interviews beschreibt und reflektiert er seine Rolle als Torwart sehr exakt). Statt Verspieltem sieht man ihm den Drill an, die schwere körperliche, die noch schwerere psychische Arbeit, die sein Job fordert. Katze nannte man früher manchmal halb ironisch Torhüter, die reaktionsschnell auf der Linie waren. Kahns Stärke ist die Linie, weniger der Strafraum. Niemand würde ihn je Katze nennen – seine Körpersprache drückt genau das Gegenteil aus. Härte, nichts Weiches, Geschmeidiges. Kahn hat den Torwart umdefiniert: zur Körpermaschine. Zum Einsamkeitshelden. Zum Tragischen.
Norbert Elias hat in einem berühmten Aufsatz Fußball als Zeichen für den fortschreitenden Prozess der Zivilisation gelesen. Die Gewalt wird von Regeln begrenzt, der sich die Akteure unterwerfen. An die Stelle der Brutalität tritt das Foul, die Notbremse, die nützlich ist. Kahns berüchtigte Ausbrüche an der Grenze zum Unkontrollierten erinnern daran, was unter dem Zivilisierungszwang liegt. Keinem sieht man in Gestik und Mimik die Entbehrungen so deutlich an, die seine Arbeit, trotz Ferrari, Medienberater und Disco-Ausflug, noch immer verlangen. Kein Torwart lässt das Rohe, die reine Aggression, die am Grund des Spiels liegt, so deutlich aufscheinen. Deshalb schreien die Fans Uhh, Uhh und werfen mit Bananen, wenn er erscheint. Deshalb wird er so bewundert, so verachtet.
STEFAN REINECKE
Der Krieger
Oliver Kahn ist ein tragischer Held. Das war er wahrscheinlich schon immer, soldatischen Athleten wie ihm haftet etwas Unzeitgemäßes an, ihr bedingungsloser Glaube an die Macht des eigenen Willens prädisponiert sie geradezu, an der Größe ihres eigenen Ehrgeizes zu scheitern.
Doch ein Sieg im Weltmeisterschaftsendspiel vor zwei Jahren hätte aus seinem Drama ein Heldenepos machen können. Dass es ausgerechnet sein Fehler war, der die Niederlage einleitete, machte es zu einer Tragödie, die mit diesem Tor gleichzeitig ihren Höhepunkt hatte. „You only got one shot, do not miss your chance to blow“, heißt es in Eminems Stück „Lose Yourself“, und Kahn hat genau diese Chance verpasst: Er hat den einen Schuss nicht gehalten.
Es war damals schon abzusehen, dass die Handlungskurve von nun an fallen würde, als er mit leerem Blick im Tor stand und für einen Augenblick zu begreifen schien, dass er niemals Weltmeister werden wird. Doch Oliver Kahn ist ein Krieger. Aufgeben kommt nicht in Frage. Mit einem dicken Körperpanzer ausstaffiert, marschiert er weiter. Aber er kann nur noch einzelne Schlachten gewinnen, der Krieg ist verloren. Es gibt nur noch Frontbegradigungen. Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Es ist eine Weile her, dass man als Übermensch im unaufhaltsamen Niedergang gute Figur machen konnte.
Diese Lächerlichkeit, sich unbeirrt nach jeder Niederlage aufzubäumen und so immer tiefer in seiner individuellen Götterdämmerung auf Raten zu verstricken, verleiht Kahns Tragik erst ihre besondere Dimension.
Denn Oliver Kahn ist ein deutscher Held. Aus einer Zeit allerdings, als deutsch noch nicht Synonym für friedliebend und konsensorientiert war. Um zum Schmerz noch den Spott hinzuzufügen: Es ist die Ironie der Kahn’schen Nibelungensaga, dass die deutschen Boulevardblätter seinem Willen zur Macht begegnen, indem sie ihn mit Spitznamen belegen wie „Kahn Kong“ oder „Dschingis Kahn“. Denn anders als konservative Rechte und antideutsche Linke gerne glauben, findet sich die glaubwürdigste Verkörperung der deutschen Primärtugenden eben nicht mehr in Volksgenossen, sondern in der Projektion auf die schwarze oder gelbe Gefahr. TOBIAS RAPP
Der Weltgeist
Zur Bedingung der Möglichkeit, Oliver Kahn zu sein (schließlich sind wir im Kant-Jahr!), gehört sein Umgang mit Interviewern am Spielfeldrand. Die übliche Oliver-Kahn-Show hat dabei einen idealtypischen Vorlauf, und der geht so:
Interviewer: geht nach dem Spiel auf Oliver Kahn zu und stellt sich vor ihn.
Oliver Kahn: sieht den Interviewer. Bleibt stehen. Muss er schließlich, als Kapitän. Und überhaupt: in diesem Medienzeitalter.
Interviewer: stellt Oliver Kahn eine Frage.
Oliver Kahn: hat die Hände noch mit Torwarthandschuhen in die Seiten gestemmt, starrt angestrengt am Interviewer vorbei nach links.
Interviewer: verlängert die Frage ein bisschen.
Oliver Kahn: hat immer noch die Hände in die Seiten gestemmt. Starrt angestrengt am Interviewer vorbei nach rechts.
Interviewer: verlängert die Frage noch ein bisschen mehr. Hält dann Oliver Kahn entschlossen das Mikro hin.
Oliver Kahn: Hände weiter in die Seiten gestemmt. Schaut jetzt den Interviewer direkt an.
Interviewer: schaut hoffnungsfroh zurück.
Oliver Kahn: Hände dito. Legt seine Stirn in Falten.
Interviewer: weiß, dass er jetzt nicht schwach werden darf. Schwankt aber ein wenig.
Dann erst sagt Oliver Kahn, was er zu sagen hat. Meist sind das die üblichen Fußballerfloskeln. Aber man muss das als Gesamtinszenierung begreifen: das Autoritäre, das Verachtungsvolle, zugleich aber auch das Manirierte und Selbstreflektierte, das so ein typischer Oliver-Kahn-Auftritt hat.
Wenn man darüber nachdenkt, fällt einem eigentlich nur ein Mensch ein, der das auch so gemacht hat: Helmut Schmidt. Sowohl der Altkanzler als auch der Nationaltorwart vermitteln in Interviews am Spielfeldrand den Eindruck, es sei doch immer schon sonnenklar, was jetzt gesagt werden muss. Und man merkt: Im Grunde nehmen sie es dem Interviewer übel, dass sie es jetzt auch tatsächlich aussprechen müssen.
Habermas? Herrschaftsfreier Diskurs? Verfertigung von Gedanken beim Sprechen? Ach, Quatsch! Diese Männer sehen unumstößliche Wahrheiten vor sich. Die einzigen Probleme, die entstehen, sind Umsetzungsprobleme. Wie kriegt man die anderen – und auch sich selbst – dazu, das tatsächlich zu tun, was getan werden muss?
Vielleicht kommen von da her dieses Titanische und diese Einsamkeit, die Oliver Kahn umwehen. Es muss ein verdammt harter Job sein, immer das, was geschehen müsste/sollte, mit dem in Einklang zu bringen, was tatsächlich geschieht. Und das auch noch in neunzig Minuten! Im Grunde genommen hat Kahn den Anspruch, der Weltgeist zwischen den Pfosten zu sein. Nur dass die Welt (wie der Ball!) sich manchmal in eigenwillige Richtungen dreht.
Oliver Kahn hat Versuche unternommen, dieses Bärbeißige für sein Image und zum Nutzen seiner Werbepartner auszubeuten. Aber schon vor dem Fehlgriff von München war das als bloße Spielerei dekodierbar. Oliver Kahn spielt Oliver Kahn: Das sah man in den Werbespots. Und man dachte: Aber der wahre Oliver Kahn sieht anders aus. Warum, schließlich, soll man den Bösen spielen, wenn man das wahre Böse in sich selbst auch kontrollieren kann? Die Anstrengung, die das kostet, kann man manchmal in den Interviews am Spielfeldrand sehen.
DIRK KNIPPHALS
Der Weitermacher
Um Oliver Kahn zu charakterisieren, braucht es nur zwei Worte. Eines davon ist „weiter“, das andere „ich“. Kahn macht immer weiter, weiter und weiter. Das gilt selbstverständlich auch für unsereins – Kahn aber kann immer nur auf einem noch höheren Level weitermachen. Für ihn ist das nächste Spiel immer das „ultrabrutalstwichtigste“, wenigstens ein „Schlüsselspiel“, und wenn es gegen Frankfurt am 1. oder Leverkusen am 23. Spieltag ist.
Kahn erweist sich bei diesem sturen Weitermachen als großer Verdrängungsmeister; Reflexionen gibt er keine Chance, jeder eigene Fehler stachelt ihn nur an, noch brutaler weitermachen, auf möglichst allerhöchstem Niveau selbstredend: Nicht die Niederlage als solche, sondern sein eigener Fehlgriff war für ihn nach dem WM-Finale der wichtigste Grund, noch bis zur WM 2006 zu spielen. Der Fehler gegen Real veranlasste ihn zu der legendär lächerlichen Aussage, nun das Rückspiel allein gewinnen zu wollen und zu müssen, ein Ding der Unmöglichkeit.
Kahn aber kennt keine Unmöglichkeit. Mit unbändigem Eifer, Willen und der größtmöglichen Reduzierung seiner geistigen Fähigkeiten glaubt er, auch noch die Sterne vom Himmel holen zu können. Dafür attestiert man ihm gern Vorbildcharakter, deshalb ist er „Führungsspieler“.
Appelliert Kahn aber an seine Berufsehre, an Deutschland, an die Pflicht, sich für den Verein einzusetzen, meint er am Ende nur sich selbst: me, myself and I, Oliver Kahn. Sein Land, sein Verein, seine Region sind ihm herzlich egal. Zuerst kommt Kahn, dann der Rest: „Wenn ich das umsetzen kann“, hat er nach dem 3:1-Sieg der Bayern gegen Leverkusen gesagt, „dann haben wir in Madrid sehr gute Chancen.“
Kahn, der Willensmensch, Kahn, das Vorbild, vor allem aber: Kahn, der personifizierte Stumpfsinn. Denn Kahn setzt dem Stumpfsinn seines Berufsstandes und dem der tagtäglich ihn umgebenden Medienwelt den eigenen Stumpfsinn des immer stumpfsinnig nach Höherem strebenden Weitermachens entgegen. Man kann ihm nur wünschen, dass er zwischen Oliver Kahn und „Oliver Kahn“ noch unterscheiden kann. Wenn nicht, dürfte ihn das Problem, das Sportstars nach ihren Karrieren haben, die große Frage nach dem Sinn und dem Weiter, noch härter ankommen als andere. Um es mit der Hamburger Band die Sterne zu fragen: „Wo fing das an, was ist passiert, was hat dich bloß so ruiniert?“ Sollte Kahn aber eines späten Tages doch noch locker, reflektiert und weitsichtig auftreten, sollte er zur Besinnung kommen und sich etwa über Platz 5 bei der WM 2006 freuen, kann man ihn nur beglückwünschen: guter Schauspieler, guter Job.
GERRIT BARTELS
Anstoß: heute, 20.45 Uhr. Sat.1 und Premiere übertragen